- Materialismus: Ansätze einer materialistischen Naturerklärung
- Materialismus: Ansätze einer materialistischen NaturerklärungDie Philosophen der Aufklärung lebten in einer Welt des Widerspruchs von Vernunft und Wirklichkeit. Es konnte nicht genügen, in einem begrenzten Fache zu arbeiten, da die Erkenntnis des Ganzen verwandelt werden sollte. Je nach ihren Fähigkeiten widmeten sie sich einzelnen Sachgebieten und arbeiteten sich oft auf erstaunliche Weise rasch und gut in den aktuellen Stand der Wissenschaften ein. Die Universalität ihres Blickes und die Fruchtbarkeit ihrer Leistungen wird selten gewürdigt. Ohne selbst Mathematiker oder Naturforscher zu sein, hatte Diderot entscheidend dazu beigetragen, den Wandel vom geometrischen Weltbild zu dem organischen der Wissenschaften vom Leben zu vollziehen.Diderot war ein experimenteller Denker, der die Sensibilität, die er aller Materie zuschrieb, selbst in ungewöhnlichem Maße besaß. Um die Abhängigkeit unserer Erkenntnis von den Sinnen zu studieren, schaltete er im »Brief über die Blinden« (1749) einen Sinn aus und dachte sich in eine Welt ohne Gesichtssinn hinein. Er bediente sich dazu des Vorbilds des blinden Mathematikers Saunderson und fragte nach den metaphysischen Folgerungen, die wir unzulässig aus unserem Sehen und dem Licht ziehen. In der Vision des sterbenden Saunderson entwickelte Diderot die Vorstellung einer experimentellen Entstehung von Welten, bis unsere Welt, die als Zufall zwischen misslingenden Versuchen anzusehen ist, Bestand hat.In den »Gedanken zur Interpretation der Natur« skizzierte er 1754 die Lehre einer Welt aus Atomen, die jedoch nicht lediglich träge Materie, sondern - ähnlich wie Leibniz' Monaden - voller Empfindung und eigentlich Geist sind. Es war keine Theorie, was Diderot in Vermutungen und Behauptungen aneinander reihte; seine Begriffe sollten allmählich an den Erscheinungen und der wachsenden Einsicht gebildet werden. Die Welt dachte Diderot als unfertig. Die empfindende und denkende Natur hat nicht nur die Organe der Lebewesen, das Denken und die Sprache des Menschen (sowie daraus Wissenschaft und Kunst) hervorgebracht, sie kann auch weiteres bisher Unbekanntes hervorbringen.Diderot stand mitten in einer Entwicklung, die sich in Frankreich von den Resten eines dogmatisch gewordenen Cartesianismus zu befreien versuchte. Auf Lockes Anstoß hin entwickelte La Mettrie als philosophierender Arzt einen anthropologischen Materialismus, dessen Materie nicht mehr nur, wie bei Descartes, ausgedehnt, sondern beweglich und empfindend ist. Er steigert ihn zu einer Apologie der Sinnlichkeit. Condillac versuchte die psychischen Funktionen genetisch zu begreifen. Der ursprünglich aus Deutschland stammende Baron Holbach verband schließlich alle Elemente materialistischer Doktrin zu einem »System der Natur« (1770). Diderot erkannte aber unterdessen, dass ein starres System dem Denken nicht weiterhilft; dass man mit den einzelnen Elementen selbst experimentell spielen musste, um ihre Fruchtbarkeit zu erweisen.Neben der Arbeit an der »Encyclopédie« gab Diderot in jeweils neuen literarischen Formen von dem Fortschreiten der der Gedankenbildung Rechenschaft. Nach seinen »Briefen« und »Gedanken« erneuerte er Platons Kunst des Dialogs in der Moderne. »Das Gespräch zwischen dd'Alembert und Diderot« führte in die Widersprüche der Theoriebildung. Der physiologische Zusammenhang des Menschen mit der Natur, die stufenweise Höherentwicklung der Empfindungen von der unbelebten Materie über das Gestein, die Pflanzen und die Tiere zum bewussten Fühlen und Denken des Menschen fordert die enge Begriffsbildung heraus, die keine Übergänge kannte. In Diderots Schrift »D'Alemberts Traum«, einer Ergänzung des »Gesprächs«, begibt sich d'Alembert zur Ruhe; in ihm aber arbeitet es an den ungelösten Fragen weiter, und er äußert im Traum Gedanken, die seine Freundin für Wirkungen des Fiebers halten muss. Tatsächlich widersprechen sie den Meinungen, die d'Alembert wach vertrat, sie werden vom herbeigerufenen Arzt und Physiologen Bordeu in ihrer Fruchtbarkeit erkannt und mit Mademoiselle de Lespinasse in ihren Konsequenzen kühn und ausgreifend erörtert. In der Darstellung von d'Alemberts Rede im Fieber mit ihren Unterbrechungen, Abschweifungen, gedanklichen Verkürzungen und Engpässen, mit Unbewusstem sowie der Verwendung von Metaphern war die wahrheitsgemäße Abbildung der Erzeugung eines Gedankens geschaffen. Diderot kam damit der wirklichen Methode des beweglichen Geistes, sich stets erneut wieder in Bewegung zu setzen, näher als diejenigen zeitgenössischen Philosophen, die sich in Einzelthesen verloren.Die als falsch und einseitig erkannten Sätze einer dogmatischen Naturerklärung, die ausschließlich an der geometrischen Beweismethode orientiert war, konnte den überraschenden neuen Erkenntnissen nicht gerecht werden. Das Mikroskop machte nunmehr Welten sichtbar, von denen die antiken Philosophen und das Alte Testament nichts wissen konnten. Alle mechanischen Begriffe, die man auf lebendige Wesen angewendet hatte, wurden langsam durch organische ersetzt. Die Grenzen zwischen Arten und Gattungen und selbst den Bereichen der Natur wurden unscharf, wozu nicht zuletzt auch Goethes Entdeckung des menschlichen Zwischenkieferknochens beitrug; Übergänge, genetische Momente und Abweichungen kamen als natürliche Erscheinungen in den Blick. Bislang hielt man die Welt mit dem biblischen Schöpfungsbericht für kaum älter als 6000 bis 7000 Jahre. Nun zeigte die Naturforschung, allen voran der Privatgelehrte Graf von Buffon, dass die Arten zu ihrer Entstehung Zeiträume ganz anderer Ausdehnung benötigt haben müssen, dass die Natur nicht nur entfaltet, was - wenn auch winzig und klein - im ersten Lebewesen immer schon fertig vorhanden war, sondern neu und weiter bildet, vielleicht sogar Entwicklungssprünge macht.Man darf die materialistische Naturerklärung nicht als negative Reaktion auf eine vorausgegangene dogmatische ansehen; dafür waren die Entdeckungen und Irritationen viel zu reich. Das astronomische Weltbild war zunächst ein mathematisches, das mit der alten Physik nicht erklärbar war. Um KopernikusThese, dass nicht die Erde, sondern die Sonne den Mittelpunkt der Planetenbahnen bildet, zu beweisen, bedurfte es einer neuen Physik. Diese schufen Galilei und Newton. Für die Erscheinungen der belebten Natur hatten die alten Erfahrungssätze und Klassifikationen nicht mehr ausgereicht. Die neue Physik fügte den alten Gesetzen nicht nur neue hinzu, sondern sie verwandelte die Begriffe selbst: »Raum«, »Materie«, »Kraft«, »Trägheit« wurden neu definiert. Entsprechend verwandelten sich die Begriffe vom Leben mit der Entdeckung der Zelle und ihres überraschenden Verhaltens. Um das neue Bild der »Wissenschaften vom Leben« zustande zu bringen, mussten viele zusammenwirken. Falsche Vereinfachungen und Grenzen waren zu überwinden, ungenügende Erklärungen musstenin einem neuen Gedankengebäude umfomuliert werden. Es war nicht lediglich eine Sache von Fachleuten, die einzelne Forschungen vorantrieben.Das neue Denken verlangte nach neuen Ausdrucksformen und bewegte die Geister. Wenn Goethe Jahrzehnte seines Lebens naturwissenschaftlichen Beobachtungen widmete, um seinem Erkennen die Disziplin zu geben, die im Literarischen nicht zu erwerben war, so stand er in der Tradition der Aufklärung. Und Hegels »Phänomenologie des Geistes« (1807) war die späte Konsequenz aus dem genetischen Erkennen der Sensualisten. Es kann kaum wundernehmen, dass beide sich Diderot besonders verbunden fühlten. Eine materialistische Doktrin, wie sie verschiedentlich im 19. Jahrhundert schlüssiges Weltbild und Ersatzreligion werden sollte, versteinerte das Denken wieder. Diderot war es aber gelungen, das Denken in seiner Bewegung darzustellen. So sagt er in »D'Alemberts Traum« über die Grundsätze des Denkens: »Sehen Sie, mein Freund, wenn Sie genau darüber nachdenken, kommen Sie darauf, dass unsere wirkliche Überzeugung nicht die ist, in der wir niemals schwankten, sondern die, zu der wir am häufigsten zurückgekehrt sind.«Prof. Dr. Horst GüntherGeschichte der Philosophie, herausgegeben von Wolfgang Röd. Band 8: Die Philosophie der Neuzeit, Teil 2. Von Newton bis Rousseau. München 1984—89.Röd, Wolfgang: Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Band 2: 17. bis 20. Jahrhundert. München 1996.
Universal-Lexikon. 2012.